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Gericht: Landesarbeitsgericht Berlin
Urteil verkündet am 05.09.2003
Aktenzeichen: 13 Sa 1629/03
Rechtsgebiete: BetrVG
Vorschriften:
BetrVG § 95 | |
BetrVG § 102 Abs. 3 Nr. 2 | |
BetrVG § 102 Abs. 5 Nr. 3 |
Landesarbeitsgericht Berlin Im Namen des Volkes Urteil
Verkündet am 05.09.2003
In Sachen
hat das Landesarbeitsgericht Berlin, 13. Kammer, auf die mündliche Verhandlung vom 05.09.2003 durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Dr. Fenski als Vorsitzenden sowie die ehrenamtlichen Richter Dr. Dohse und Gebauer
für Recht erkannt:
Tenor:
1. Unter Abänderung des Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 30. Juli 2003 - 8 Ga 19484/03 - wird die Verfügungsklägerin von der Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung der Verfügungsbeklagten nach Ablauf der Kündigungsfrist am 31. Juli 2003 bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits entbunden.
2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Verfügungsbeklagte.
3. Gegen dieses Urteil ist ein Rechtsmittel der Parteien nicht gegeben, § 72 Abs. 4 ArbGG.
Tatbestand:
Die Parteien streiten um die Entbindung der klagenden Arbeitgeberin von einer Weiterbeschäftigung nach § 102 Abs. 5 Nr. 3 BetrVG im Wege der einstweiligen Verfügung.
Die Verfügungsklägerin beabsichtigte, einen größeren Kreis von Mitarbeitern betriebsbedingt zu kündigen. Hierzu wollte sie mit dem bei ihr bestehenden Betriebsrat Auswahlrichtlinien nach § 95 BetrVG vereinbaren und leitete dem Betriebsrat einen entsprechenden Entwurf zu. Dieser wurde vom Betriebsrat nicht unterschrieben. Mit Schreiben vom 17. April 2003 hörte die Verfügungsklägerin den Betriebsrat zu der beabsichtigten Kündigung der verfügungsbeklagten Arbeitnehmerin an. Diesem Anhörungsschreiben war beigefügt eine "Übersicht Vergleichskreise und Qualifikationen", in welchem die Verfügungsklägerin verschiedene Gruppen von Arbeitnehmern abstrakt definiert hatte, u.a. aufgrund ihrer Ausbildung und ihrer Deutsch- oder Englischkenntnisse.
Ferner wurde dem Betriebsrat im Rahmen der Anhörung eine Zusammenstellung überreicht, aus der sich ergibt, dass die Verfügungsklägerin die Verfügungsbeklagte dem "Kreis 0" zuordnete und auf ihre Zuordnung zur "Liste b)" hinwies.
Daneben gibt es Arbeitnehmer, die den Listen a), c) bis f) und h) bis i) zugeordnet sind.
Mit dem der Verfügungsklägerin am 25. April 2003 zugegangenen Schreiben vom selben Tag widersprach der Betriebsrat der beabsichtigten Kündigung. In diesem Widerspruch heißt es u.a.:
"(...)
Der Betriebsrat widerspricht der Kündigung des Mitarbeiters gemäß § 102 Abs. 3 Nr. 2 BetrVG, da die Kündigung des Mitarbeiters gegen eine Richtlinie nach § 95 verstößt, indem für die Zuordnung des Mitarbeiters zu den Auswahlkreisen ausschließlich der berufliche Ausbildungsgrad entscheidend war. Hiermit werden im Laufe des beruflichen Lebens gesammelte Erfahrungen, insbesondere die bei S./I. gesammelten, ignoriert. Richtig ist vielmehr, dass der Mitarbeiter durch seine nachgewiesene Weiterbildung und Qualifikation in der Lage ist, einen Facharbeiterplatz mit hohen Fachanforderungen zu besetzen und ihn damit einem Arbeitnehmer mit der Fachausbildung Mechanik, Elektronik, mit spezifischer Berufserfahrung im Aufbau von Fiber Optik, Produkten oder der Wartung von Fiber Optik Maschinen gleichstellt.
Die entsprechenden Nachweise hierfür sind in der Personalabeilung oder beim Mitarbeiter einsehbar.
Anmerkung: Es gibt im Hause keine zwischen der Betriebsleitung FO Berlin und dem Betriebsrat abgestimmte Auswahlrichtlinie gemäß § 95 und es gibt auch hierzu keine Entscheidung einer Einigungsstelle. Der hiermit durch die Betriebsleitung vorgestellten Richtlinie wird vom Betriebsrat nicht zugestimmt."
Bei den anderen Mitarbeitern widersprach der Betriebsrat ebenfalls, und zwar nach folgenden Gruppen mit folgenden Widerspruchsgründen:
Der Kündigung der in der Liste unter a) aufgeführten Arbeitnehmer widersprach der Betriebsrat nach § 102 Abs. 3 Nr. 1 BetrVG, da die Verfügungsklägerin bei der Auswahl des Arbeitnehmers soziale Gesichtspunkte nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt hätte.
Der Kündigung der in der Liste unter c) aufgeführten Arbeitnehmer widersprach der Betriebsrat nach § 102 Abs. 3 Nr. 2 BetrVG und zusätzlich nach § 102 Abs. 3 Nr. 4 BetrVG, da fehlende Qualifikationen in einem zumutbaren Zeitraum erbracht werden könnten.
Gleiches gilt für die Widersprüche der unter d) aufgeführten Arbeitnehmer.
Der Kündigung der unter e) aufgeführten Arbeitnehmer widersprach der Betriebsrat nach § 102 Abs. 3 Nr. und § 102 Abs. 3 Nr. 1 BetrVG.
Der Kündigung der unter f) aufgeführten Arbeitnehmer wurde vom Betriebsrat gemäß § 102 Abs. 3 Nr. 5 BetrVG widersprochen.
Der Kündigung der unter h) aufgeführten Arbeitnehmer widersprach der Betriebsrat nach § 102 Abs. 3 Nr. 2 BetrVG und zusätzlich nach § 102 Abs. 3 Nr. 4 BetrVG. Endlich wurde vom Betriebsrat der Kündigung der unter i) aufgeführten Arbeitnehmer gemäß § 102 Abs. 3 Nr. 5 BetrVG widersprochen.
Mit Schreiben vom 14. Juli 2003 wandte sich die Verfügungsbeklagte an die Verfügungsklägerin und verlangte die tatsächliche Weiterbeschäftigung nach ihrer Rückkehr aus der Türkei am 6. August 2003.
Mit ihrem am 21. Juli 2003 beim Arbeitsgericht Berlin eingegangenen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung hat die Verfügungsklägerin die Entbindung von der Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung der Verfügungsbeklagten gemäß § 102 Abs. 5 Nr. 3 BetrVG verlangt. Denn der Widerspruch vom 25. April 2003 sei offensichtlich unbegründet. Der Betriebsrat verweise in seinem Widerspruch auf § 102 Abs. 3 Nr. 2 BetrVG, da die Kündigung gegen eine Richtlinie gemäß § 95 BetrVG verstoße, obwohl eine derartige Richtlinie wegen der verweigerten Unterschrift des Betriebsrats gar nicht existiere.
Das Arbeitsgericht Berlin hat mit Urteil vom 30. Juli 2003 dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zurückgewiesen, da der Betriebsrat mit seinem Widerspruch (auch) die Sozialauswahl nach § 102 Abs. 3 Nr. 1 BetrVG habe rügen wollen. Ein derartiger Widerspruch sei nicht offensichtlich unbegründet.
Wegen der konkreten Begründung des Arbeitsgerichts und des Parteivortrags erster Instanz wird auf das Urteil vom 30. Juli 2003 (Bl. 28 ff. d.A.) verwiesen.
Gegen dieses ihr am 5. August 2003 zugestellte Urteil richtet sich die beim Landesarbeitsgericht Berlin am 15. August 2003 im Original eingegangene und am 2. September 2003 begründete Berufung der Verfügungsklägerin. Sie ist nach wie vor der Meinung, dass der Widerspruch des Betriebsrats offensichtlich unbegründet sei.
Die Verfügungsklägerin beantragt,
unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Berlin vom 30. Juli 2003 - 8 Ga 19484/03 - die Verfügungsklägerin von der Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung der Verfügungsbeklagten nach Ablauf der Kündigungsfrist am 31. Juli 2003 bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits zu entbinden.
Die Verfügungsbeklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Verfügungsbeklagte verteidigt das erstinstanzliche Urteil.
Wegen des Vortrags der Parteien in der zweiten Instanz wird auf den Schriftsatz der Verfügungsklägerin vom 2. September 2003 (Bl. 62 ff. d.A.) und die Erklärungen der Verfügungsbeklagten im Termin am 5. September 2003 (Bl. 77 d.A.) verwiesen.
Entscheidungsgründe:
I.
Die Berufung ist gemäß §§ 8 Abs. 1, 64 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. b, Abs. 6, 66 Abs. 1 Satz 1 ArbGG; §§ 519, 520 Abs. 1 und 3 ZPO zulässig, insbesondere formgerecht und fristgemäß eingelegt und begründet worden.
II.
Sie hat auch in der Sache Erfolg. Die Verfügungsklägerin war von der Weiterbeschäftigung der Verfügungsbeklagten im Wege der einstweiligen Verfügung gemäß § 102 Abs. 5 Nr. 3 BetrVG zu entbinden, weil der Widerspruch des Betriebsrats offensichtlich unbegründet im Sinne der angezogenen Norm ist.
1. Die offensichtliche Unbegründetheit des Widerspruchs des Betriebsrats ist nach übereinstimmender Meinung u.a. dann anzunehmen, wenn Auswahlrichtlinien im Sinne von § 95 BetrVG, auf deren Nichteinhaltung der Betriebsrat sich beruft, überhaupt nicht aufgestellt sind (vgl. KR-Etzel, 6. Aufl., § 102 BetrVG, Rz. 231; Richardi/Thüsing, BetrVG, 8. Aufl., § 102, Rz 247; Fitting/Kaiser/ Heither/Engels/Schmidt, BetrVG 2. Aufl., § 102, Rz. 120).
2. So liegt es hier. Zwar hat der Arbeitgeber einseitig Auswahlrichtlinien aufgestellt, die der Betriebsrat genehmigen sollte. Da er dies jedoch nicht getan hat, ist eine Betriebsvereinbarung im Sinne von § 95 BetrVG nicht zustande gekommen, so dass es an einer "Richtlinie nach § 95" im Sinne von § 102 Abs. 3 Nr. 2 BetrVG, die den Betriebsrat zum Widerspruch hätte berechtigen können, fehlt.
3. Die Erklärung des Betriebsrats kann entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts auch nicht in einen Widerspruch nach § 102 Abs. 3 Nr. 1 BetrVG (Nichtberücksichtigung sozialer Gesichtspunkte) umgedeutet werden. Dies folgt aus dem Wortlaut der Erklärung des Betriebsrats, der Systematik seiner anderen Widersprüche zu bestimmten Gruppen und der Chronologie der Ereignisse.
a) Der Betriebsrat hat nicht etwa einen Subsumtionsfehler gemacht, indem die falsche Norm erwähnt hat. Vielmehr hat er ausdrücklich darauf verwiesen, dass "die Kündigung des Mitarbeiters gegen eine Richtlinie nach § 95 verstößt". Von einer Nichtberücksichtigung sozialer Belange im Sinne von § 102 Abs. 3 Nr. 1 BetrVG ist im gesamten Schreiben des Betriebsrats keine Rede.
b) Dies ist auch nicht etwa paradox, weil der Betriebsrat in der Anmerkung zum Widerspruch aufführt, dass es "keine zwischen der Betriebsleitung F. Berlin und dem Betriebsrat abgestimmte (Unterstreichung durch das Gericht) Auswahlrichtlinien gemäß § 95" gibt. Er verweist damit nur auf die von der Arbeitgeberin aufgestellt Auswahlrichtlinie, die er zwar nicht unterschrieben hat, deren Rechtmäßigkeit er aber im Hinblick auf § 95 BetrVG rügt, was wiederum im Hinblick auf die Gründe des § 102 Abs. 3 Nr. 2 BetrVG nicht möglich ist.
c) Gegen einen Subsumtionsfehler spricht endlich die Behandlung der anderen beabsichtigten Kündigungen bzw. der entsprechenden Widersprüche. Der Betriebsrat hat nämlich den einzelnen Gruppen von Arbeitnehmern einzelne Widerspruchsgründe zugeordnet. Dabei hat er etwa hinsichtlich der Arbeitnehmer der Gruppe A ausdrücklich nach § 102 Abs. 3 Nr. 1 BetrVG wegen der Nichtberücksichtigung sozialer Belange widersprochen. Dies zeigt eindeutig, dass der Betriebsrat sich nicht nur über die rechtliche Einordnung der verschiedenen Widerspruchsgründe, sondern auch über die Subsumtion der einzelnen tatsächlichen Kriterien unter die Widerspruchsgründe des § 102 Abs. 3 BetrVG völlig im Klaren war.
III.
Die Verfügungsbeklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits gemäß § 91 Abs. 1 ZPO bei einem Streitwert von 1.520,--EUR in beiden Instanzen (1 Monatsgehalt in Höhe von 1.900,--EUR [siehe S. 2 der Antragsschrift im Parallelrechtsstreit 13 Sa 1617/03] x 80 % wegen des vorläufigen Verfahrens).
IV.
Ein Rechtsmittel für die Parteien ist gemäß § 72 Abs. 4 ArbGG nicht gegeben.
Ende der Entscheidung
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